Mehr Autonomie trotz Behinderung
Der Kanton feierte das zehnjährige Jubiläum der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention durch die Schweiz. Das Departement des Innern hat ein umfassendes Gesetzgebungsprojekt im Behindertenbereich vorangetrieben.
Die Regierung schickte im Herbst 2024 eine umfassende Revision des Gesetzes über die soziale Sicherung und Integration von Menschen mit Behinderung in die Vernehmlassung. Ziel der Revision ist eine stärkere Verankerung der UN-Behindertenrechtskonvention in der St.Galler Rechtsordnung. Mit drei Nachträgen sollen gewichtige Verbesserungen für Menschen mit Behinderung erreicht und das kantonale Gesetz umfassend weiterentwickelt werden. Bei der Erarbeitung der Vorlage hat das Departement auf ein möglichst partizipatives Vorgehen geachtet.
Selbstbestimmt und kostendämpfend
Kern der Vorlage und Inhalt des I. Nachtrags zum Gesetz ist ein neues Finanzierungssystem im Bereich «Wohnen mit ambulanter Unterstützung». Damit sollen mehr Menschen selbständig und selbstbestimmt in einer eigenen Wohnung leben können. Die Betroffenen erhalten dafür die nötigen Unterstützungsleistungen.
Um ihren Unterstützungsbedarf zu erheben, schätzt eine unabhängige Stelle den Bedarf ein. Darauf basierend spricht die zuständige kantonale Stelle die nötigen finanziellen Mittel. Weil auf diese Weise künftig mehr Menschen in ihrer eigenen Wohnung wohnen können, wird eine kleinere Nachfrage nach Wohnen im Heim und dadurch eine kostendämpfende Wirkung erwartet.
Barrierefreiheit stärken
Im gleichzeitig erarbeiteten II. Nachtrag zum Gesetz soll mit Anpassungen an die gesetzlichen Bestimmungen eine grundsätzliche Verbesserung der Behindertengleichstellung im Kanton erreicht werden. So werden z.B. die Aufgaben der Verwaltung zu Beratung und Sensibilisierung betreffend Behindertengleichstellung ausgebaut.
Neu werden auch der barrierefreie Zugang zu öffentlich zugänglichen Gebäuden im Eigentum der öffentlichen Hand und die Pflicht zur barrierefreien Kommunikation des Staates gesetzlich verankert. Zudem sollen künftig gesetzliche Anpassungen stets auf ihre Übereinstimmung mit der UN-Behindertenrechtskonvention überprüft werden.
Weitere Anpassungen geplant
Mitte 2024 legte das Departement des Innern den periodisch fälligen Planungsbericht für Angebote für erwachsene Menschen mit Behinderung vor. Der Bericht zeigt, dass verschiedene Trends Entwicklungen in der Angebotslandschaft erfordern:
- Die zunehmende Individualisierung macht einen nachhaltigen Ausbau ambulanter Angebote nötig;
- die zunehmenden Berentungszahlen aufgrund psychischer Behinderungen erfordern eine Veränderung der Angebote;
- zunehmende Fälle mit intensivem Betreuungsbedarf führen zu einer erhöhten Nachfrage nach individuellen Einzelfalllösungen.
Zudem hat die Regierung bereits im Rahmen der laufenden Revision ihre Absicht geäussert, den gesamten Bereich Wohnen, also auch das Wohnen in stationären Einrichtungen, in eine effiziente und bedarfsorientierte Zukunft führen zu wollen. Entsprechend hat das Departement des Innern parallel zur laufenden Revision einen nächsten Revisionsschritt eingeleitet. Mit diesem will es den Bereich Wohnen revidieren, um Fehlanreize zu vermeiden und eine hohe Durchlässigkeit zu erreichen. Damit sollen die Wahlfreiheit und die Selbstbestimmung der Betroffenen weiter erhöht werden.
Zahlreiche Aktionen für die Behindertengleichstellung
Neben den wichtigen Arbeiten auf Gesetzesebene wurde im Jahr 2024 das zehnjährige Jubiläum der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention schweizweit mit den Aktionstagen Behindertenrechte «Zukunft Inklusion» gefeiert. Auch in den Kantonen St.Gallen und den beiden Appenzell wurden im Frühsommer 2024 über 70 Aktionen im Rahmen der Aktionstage durchgeführt. Dazu zählten z.B. ein inklusiv geführtes Kino, eine Disco «Tanz dich inklusiv» oder eine Museumsführung mit unterschiedlichen Sinneserfahrungen. Damit wurde ein wichtiges Zeichen zur Bedeutung der Behindertengleichstellung gesetzt.
Interview mit Nora Stahr, Leiterin Stab Amt für Soziales und Projektleiterin der Revision
Der Erarbeitungsprozess der Sammelvorlage war von Anfang an möglichst partizipativ ausgestaltet. Wie ist das zu verstehen?
Von Anfang an war eine Begleitgruppe eng in den Gesetzgebungsprozess eingebunden. Diese ist zusammengesetzt aus Betroffenen sowie Vertretungen aus dem stationären und ambulanten Bereich. Zudem hat der Verein der Behindertenkonferenz St.Gallen-Appenzell Einsitz. Damit in die Begleitgruppe möglichst viele Stimmen einfliessen, führt die Behindertenkonferenz zudem zwei Netzwerke – eines mit Leistungsanbietenden und eines mit Betroffenen möglichst vieler verschiedener Behinderungsarten.
Was konnte die Begleitgruppe konkret erreichen?
Die einzelnen Teile der Botschaft zum neuen Gesetz wurden zuerst in den Netzwerken und anschliessend in der Begleitgruppe diskutiert. Der Kanton profitiert dadurch von den vielfältigen Erfahrungen aller Anspruchsgruppen und erhielt einen guten Einblick. So konnten wir eine möglichst abgestimmte und bedarfsgerechte Lösung erarbeiten.
Wie können Sie die Partizipation in der Vernehmlassung weiterführen?
Für die Vernehmlassung erstellten wir die Unterlagen in möglichst zugänglicher Form. Es gibt eine Zusammenfassung in Einfacher Sprache und eine Version in Leichter Sprache. Zudem sind die Unterlagen so aufbereitet, dass z.B. Vorleseprogramme damit umgehen können. Als Ergänzung haben wir zusammen mit easyvote ein Erklärvideo zur Frage ‹Was ist eine Vernehmlassung› produziert.
Was sind die Erkenntnisse aus diesen partizipativen Prozessen?
Der Erarbeitungsprozess wurde durch die breite Partizipation zwar komplexer, aber im Resultat hat sich der Aufwand gelohnt. Der Regelungsbedarf wurde mit den Einblicken und Erfahrungen aus dem Leben der Selbstbetroffenen und aus dem Tagesgeschäft der Leistungserbringenden gespiegelt. Dadurch ist sichergestellt, dass die Lösung auch in der Praxis funktioniert. Den Austausch und die Zusammenarbeit habe ich sehr wertschätzend und gewinnbringend erlebt. Ich bin mir sicher, dass wir dank diesem Partizipationsansatz ein besseres Ergebnis erzielt haben.

der Leistungsnutzenden der spezialisierten Angebote für Menschen mit Behinderung haben eine psychische Beeinträchtigung.
IT-Barrierefreiheit vorangetrieben
Im Rahmen der Mitwirkung des Departementes des Innern in den verschiedenen kantonalen IT-Gremien konnten wichtige Voraussetzungen für die Verbesserung der barrierefreien Ausgestaltung von IT-Lösungen geschaffen werden. So wird bei IT-Projekten anhand eines Bewertungsrasters je nach Zielgruppe nun systematisch beurteilt, welchen Stellenwert Massnahmen für die IT-Barrierefreiheit erhalten sollen. Entsprechend wird künftig häufig der eCH-0059 Accessibility Standard umgesetzt. Dieser sorgt etwa dafür, dass Leichte Sprache und maschinell lesbare Dokumentenformate in digitalen Angeboten gegenüber der Bevölkerung angewendet werden. Der Kanton St.Gallen trat zudem als erster Kanton der vom Bund initiierten Allianz Digitale Inklusion Schweiz (ADIS) bei, die das Thema IT-Barrierefreiheit bei privaten und öffentlich-rechtlichen Akteurinnen und Akteuren bekannt machen und weiterentwickeln soll.
Bediente Schwerpunktziele
Chancengerechtigkeit sicherstellen (Unterstützung gesellschaftliche Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen, Förderung der Vereinbarkeit und Bereitstellung von Betreuungsangeboten)
Strukturentwicklung fördern (Förderung Strukturentwicklung im Alters- und Behindertenbereich