Gehen uns die Arbeitskräfte aus?
Zahlreiche Stimmen aus Wirtschaft und Wissenschaft befürchten, dass es künftig nicht nur einen Fachkräftemangel, sondern einen allgemeinen Mangel an Arbeitskräften geben wird, der sich massiv verschärfen könnte.
Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die Veränderung des Erwerbspersonenpotenzials der 20- bis 64-Jährigen , hier betrachtet für den Kanton St.Gallen (Abbildung G1). Dieses verändert sich einerseits durch Zu- und Abwanderungen sowie Todesfälle, andererseits dadurch, dass ein Jahrgang die Pensionierungsgrenze erreicht und ein jüngerer Jahrgang nachrückt (Altersstruktureffekt). Seit dem Jahr 2021 sind die nachrückenden Jahrgänge der 20-Jährigen kleiner als die, die das Pensionsalter erreichen, und zwar um jeweils etwa 650 Personen. Der positive Wanderungssaldo konnte diese Lücke und die Todesfälle bisher kompensieren.
Gemäss Bevölkerungsszenario «Trend» wird sich das Erwerbspersonenpotenzial durch den Altersstruktureffekt zwischen 2024 und 2030 jährlich sogar um durchschnittlich 1'500 Personen reduzieren. Zurückzuführen ist das darauf, dass die Babyboomer-Jahrgänge das Pensionsalter erreichen und geburtenschwache Jahrgänge nachrücken. Abgefedert wird das im Szenario durch einen leicht steigenden positiven Wanderungssaldo.
G1 Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials nach Komponenten, Kanton St.Gallen
Sinkende Erwerbspersonenzahlen bedeuten nicht zwingend rückläufige Erwerbstätigenzahlen . Mitentscheidend ist, wie viele der Personen im erwerbsfähigen Alter sich für eine Erwerbstätigkeit entscheiden. Abbildung G2 zeigt, wie sich die Erwerbsbeteiligung der Frauen und Männer zwischen 25 und 59 Jahren mit Wohnsitz im Kanton St.Gallen seit 1970 entwickelt hat. Bei den Männern ging der sehr hohe Anteil, der einer Erwerbstätigkeit nachgeht, über alle Altersklassen hinweg um vier bis fünf Prozentpunkte zurück. Die Erwerbsbeteiligung der Frauen stieg hingegen sehr stark an, bei den 25-29-Jährigen von 47 auf 86 Prozent. Zudem fällt auf, dass die nachrückenden jungen Frauen jeweils eine höhere Erwerbsbeteiligung aufwiesen als die älteren Jahrgänge am Ende der Erwerbstätigigkeitsphase. Die Differenz erreichte 1990 ein Maximum von 17 Prozentpunkten, ist aber seither auf neun Prozentpunkte gefallen. Der positive Effekt auf das Arbeitskräftepotenzial, der darauf beruht, dass die nachrückenden Jahrgänge der Frauen eine höhere Erwerbsbeteiligung aufweisen als ihre Mütter und Grossmütter, scheint sich also zu erschöpfen.
G2 Erwerbsbeteiligung nach Geschlecht und Altersklasse, Kanton St.Gallen
Neben der Erwerbsbeteiligung beeinflusst auch der Beschäftigungsgrad der Erwerbstätigen das Arbeitskräfteangebot. Sowohl unter den Männern als auch den Frauen mit Wohnsitz im Kanton St.Gallen ist zwischen 2010 und 2021 der Anteil derer zurückgegangen, die einer Vollzeittätigkeit nachgehen (Abbildung G3). Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind aber nach wie vor gross. Bei den Männern nahm besonders der Anteil der hohen Teilzeitpensen zwischen 70 und 89 Prozent zu. Bei den Frauen gab es hingegen Zunahmen sowohl bei den grossen (70-89 Prozent) als auch den mittleren Teilzeitpensen (50-69 Prozent), während neben der Vollzeittätigkeit auch die Kleinpensen bis 50 Prozent an Bedeutung verloren haben.
G3 Beschäftigungsgrad der Erwerbstätigen nach Geschlecht, Kanton St.Gallen
Wie wirken sich diese teils gegenläufigen Entwicklungen gesamthaft auf das Arbeitsangebot aus? Zur Beantwortung dieser Frage bieten die geleisteten Arbeitsstunden der Erwerbstätigen einen Hinweis. Zwischen 2010 und 2021 haben die geleisteten Arbeitsstunden von 8,96 Millionen auf 9,43 Millionen Stunden pro Woche zugenommen (Abbildung G4). Dies entspricht einem Anstieg um mehr als fünf Prozent.
G4 Arbeitsstundenvolumen pro Woche, Kanton St.Gallen
Zu beachten ist, dass alle vier Auswertungen auf den Wohnort der Erwerbspersonen abstellen. Das Phänomen der Arbeitspendelmobilität über die Kantons- oder sogar die Landesgrenzen hinaus bleibt an dieser Stelle ausgeklammert, ebenso neuere Phänomene wie Remote Work. Diese haben ebenfalls entscheidenden Einfluss auf das an einem Ort zur Verfügung stehende Arbeitskräfteangebot. Aus volkswirtschaftlicher Perspektive ist ausserdem relevant, wie sich die Produktivität der eingesetzten Arbeit entwickelt hat. Gemäss Wachstums- und Produktivitätsstatistik (WPS) des Bundesamts für Statistik ist diese zwischen 2008 und 2020 in der Ostschweiz stärker angestiegen als in den meisten anderen Landesteilen.